Todesmarsch 1945

Todesmarsch 1945

Lupe

Diese Aufzeichnung stammt aus der Feder von Sigrid Schlenker. Sie war noch keine 10 Jahre alt, als sie den Todesmarsch der KZ-Häftlinge erlebte. Ihre Kindheitserinnerung hat sie ein Leben lang begleitet. Nun hat sich ihr Leben vollendet, als gütige, aber auch strenge Mutter, als geachtete Diplom-Ingenieurin und als Frau an der Seite eines Berufssoldaten der Luftverteidigung. Verstehen wir ihre 1985 geschriebenen Zeilen als Mahnung, so etwas nie wieder zuzulassen.

 

Hier ihr Vermächtnis

Der Frühling 1945 begann zeitig und war warm. Die Kartoffelfelder mussten bestellt werden. Die Bauern öffneten die Kartoffelmieten, um das Saatgut vorzubereiten. Wir Kinder halfen beim Sortieren. Seit Wochen konnten wir keine Schule besuchen. Sie dienten jetzt als Lazarett oder Flüchtlingslager.

Der Krieg schien eine Pause einzulegen, hier in der Ostprignitz, einer Gegend, von der man behauptet, dass sich Hase und Fuchs „Gute Nacht“ sagen. Die Wehrmacht war über Nacht aus den Schützengräben und Unterständen westwärts abgezogen. Nur nachts hörten wir das Brummen von bombenschweren Flugzeugen.

In diesen Tagen wurde viel über das baldige Ende des Krieges gesprochen. Jetzt aber musste erst einmal die Saat in die Erde.  Wir Kinder sammelten die verfaulten und angeschlagenen Kartoffeln aus. Übermütig wie wir waren, veranstalteten wir dabei kleine Wettspiele. So probierten wir, wer die Kartoffeln bis zur nahen Straße werfen konnte. Der Stamm eines dicke Chausseebaumes war unsere Zielscheibe. Manchmal wurde zum Werfen auch eine gute Kartoffel genommen, weil man damit weiter und genauer werfen konnte. Die Erwachsenen durften das nicht sehen, sonst gab es Schelte.

Bei unserem fröhlichen Treiben hatten wir gar nicht auf das Geräusch geachtet, das immer näher kam und lauter wurde. Die Frauen unterbrachen ihre Arbeit und baten um Ruhe. Da hörten wir es auch. Es klang wie das Summen eines Bienenschwarmes, manchmal klapperte etwas, wie aufeinander geschlagene Holzscheite. Dann knallte ein Pistolenschuss, Hunde bellten kurz auf, Männerstimmen schimpften oder schrien Befehle. Soldaten waren es nicht, die da marschierten, deren Stiefelschritte hatten wir im letzten Jahr oft gehört.

Und dann sahen wir, was das rätselhafte Geräusch verursachte. Es war ein Trupp von Menschen, Menschen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Aus Büchern kannte ich Bilder von Totenschädeln und Gerippen, die den Tod darstellten. So sahen diese Menschen aus, nur waren ihre Knochen mit einer braunen Haut überzogen die faltig und lederartig wirkte. Ihre Kleidung bestand nur aus Fetzen, die am Körper herunterhingen. An den Füßen trugen sie keine Schuhe, sondern Holzpantoffeln, viel zu groß und schwer für die Knochenbeine. Nur mit Mühe schleppten sich die entkräfteten Gestalten vorwärts. Die Holzpantoffeln schleiften auf der Erde. Die Kraft reichte nicht aus, um die Beine zu heben Dadurch entstand das summende, scheppernde Geräusch. Beim genaueren Hinsehen bemerkte ich, dass einige Männer Hosen mit Streifen trugen. Es waren also Gefangene. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Mehrmals konnte ich mit Erstaunen sehen, dass zwei der Gefangenen einen völlig Entkräfteten in ihre Mitte genommen hatten und ihn stützten oder mitschleiften. Woher sie die Kraft nahmen, war mir ein Rätsel. Später sahen wir, dass derjenige, der vor Entkräftung liegen blieb, an den Straßenrand gerollt und erschossen wurde.

Plötzlich lösten sich ein paar Gefangene aus dem Zug, sprangen in den Straßengraben, griffen nach den fortgeworfenen Kartoffeln und steckten sie in den Mund. Sofort waren die Bewacher mit den Hunden da und trieben sie mit lautem Schreien wieder zu den anderen zurück. Wir alle standen wie erstarrt. Nur ein kleines Mädchen nahm die Hände voller Kartoffeln und warf sie in den Trupp der Gequälten. Sie tat es so geschwind, dass es nicht einmal die Bewacher bemerkten. „Wohin werden die Menschen gebracht?“ fragte sie ihre Mutter. „In die Ostsee sollen sie getrieben werden und dann ertrinken,“ flüsterte sie. „Hoffentlich erreichen sie das Ziel nicht, denn der Krieg muss bald zu Ende sein.“

Lange hörten wir das sich entfernende schleifende Geräusch der Holzpantoffeln, manchmal krachten Schüsse. Schweigend, noch ganz unter dem Eindruck des eben Erlebten, arbeiteten wir weiter. Auch wir Kinder hatten an diesem Tag keinen Sinn für ausgelassen Spiele. Später habe ich erfahren, dass der Zug unweit von uns befreit wurde. Wenn ich heute in diese Gegend fahre und die Granitsteine mit dem roten Dreieck sehe, muss ich immer an den Marsch der gequälten Menschen denken und mir scheint, als ob das summende Geräusch in der Luft liegt.

23. April 2021